‚ChatGPT Is a Blurry JPEG of the Web’ – eine interessante Analogie zum Verständnis der großen Sprachmodelle

Aus der Folge 109 des Podcasts Auslegungssache mit dem Thema ‘Das KI DSGVO Dilemma’ habe ich einen interessanten Link gezogen: In The New Yorker erschien im Februar 2023 ein Artikel mit diesem Titel und er eröffnet eine etwas andere – und für mich sehr eingängige – Herangehensweise an das Verständnis der großen Sprachmodelle (Large Language Model / LLM):

Statt des Versuchs die komplexen Algorithmen auf eine verständliche Ebene zu bringen, die beim Training eines LLMs große Massen von Daten verarbeiten und in eine Form bringen, aus der sich die manchmal verblüffend intelligent wirkenden Ergebnisse dieser Werkzeuge produzieren lassen, wird hier der Vergleich mit verlustbehafteten Verfahren zur Datenkompression gezogen. Und daraus lässt sich gut ableiten

  • worauf die Antworten der LLMs beruhen,
  • warum sie halluzinieren,
  • in welchen Bereichen ihre Antworten mal mehr und mal (viel) weniger gut sind und
  • warum sich die Antworten von Konversation zu Konversation ändern

Ungenaue Abbildung von Informationen – meist merkt’s niemand

Vermutlich hat jede*r schon einmal erlebt, wie in einem Netflix-Video plötzlich große, unscharfe Artefakte auftauchen, weil die Bandbreite nicht mehr ausreichend ist. Oder wie der Versuch, in einem digitalen Foto kleine Details zu finden, in einer schwammigen Masse von Pixeln endet. Insbesondere wenn das Datenvolumen des Fotos reduziert wurde, was Messenger Apps wie WhatsApp gerne tun, um Speicherplatz zu sparen.

In beiden Fällen enthalten die digitalen Dateien nicht mehr alle Informationen, die bei der ursprünglichen Aufnahme einmal vorhanden waren. Durch geschicktes Ausnutzen der Eigenschaften des menschlichen Sehapparats werden viele Informationen verworfen, ohne dass es einem (meist) beim Betrachten auffällt. In diesem Beispiel mit der Großen Welle von Kanagawa sind zwischen den ersten beiden Bildvarianten kaum Unterschiede auszumachen, auch wenn das Datenvolumen nur noch ca. ein Viertel beträgt:

Erst wenn doch zu viele Informationen bei der Datenkompression verworfen wurden – wie hier im dritten Bild – werden die Lücken erkennbar, die das menschliche Gehirn sonst gerne ersetzt mit Informationen, die gar nicht da sind. Zu welchen umfassenden Ergänzungen oder gar Halluzinationen der Sehapparat dabei fähig ist, zeigt sich zum Beispiel bei Erkrankungen wie dem Charles-Bonnet-Syndrom.

Auch LLMs verwerfen Informationen

Bei der Erstellung der großen Sprachmodelle geschieht etwas ähnliches: Auch wenn es Modelle gibt, die mit Billionen – also tausenden von Milliarden – Parametern hantieren, bedeutet dies nicht, dass das ganze Weltwissen hier wortwörtlich abgespeichert wird. Das kann man grob selbst abschätzen:

Es gibt Datensammlungen wie FineWeb, die versprechen den englischsprachigen Inhalt des Internets verfügbar zu machen. Der vollständige Satz an Daten umfasst ca. 15 Billionen Tokens, was vermutlich einem Datenvolumen von ca. 16 Terabyte entspricht. Und das ist nur der englische Teil des Internets.

Die austrainierten Modelle, die man sich herunterladen kann, sind aber deutlich kleiner, normalerweise im Bereich von Gigabyte, also einem Faktor von bis zu 1.000 kleiner.

Dieser grobe Vergleich hinkt natürlich etwas, weder wissen wir genau, was alles in das Training einzelner Modelle eingegangen ist, noch lässt sich den Modellen jede erdenkliche Frage stellen und das Ergebnis genau überprüfen. Trotzdem zeigt dies schon: Ein LLM kann nicht in der Lage sein, jeden Satz, den man ihm beim Training gezeigt hat, 1-zu-1 wiederzugeben. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu einer klassischen Suchmaschine wie Google, die zumindest heute noch weitgehend Textschnipsel aus den entsprechenden Quellen wiedergibt.

Woher kommen dann die geschliffenen Texte und selbstsicheren Antworten?

Da ein Sprachmodell gar nicht mehr alles ‚weiß‘, was einmal in seinem Training eine Rolle spielte, und man es ja auch nach Dingen fragen kann, die garantiert nie in den Trainingsdaten enthalten waren, stellt sich die Frage wie es dann trotzdem antworten kann: Hier findet eine Synthese oder Interpolation auf Basis der reduzierten, im Modell noch vorliegenden Daten statt. Diese Synthese ist eine der großen Stärken dieser Sprachmodelle, wenn es darum geht überraschende Kreationen wie eine Verordnung für das korrekte Binden von Schnürsenkeln zu entwerfen:

Dem Syntheseprozess ist es egal, ob die Fragestellung Sachverhalte zusammenbringt, die in den Trainingsdaten niemals so vorkamen. Es werden einfach die entsprechenden Datenpunkte zusammengeführt und dann los gerechnet. Und dies erzeugt den verblüffenden, menschlicher Kreativität scheinbar nahe kommenden Effekt der Sprachmodelle.

Weniger gut ist dieses Verfahren aber, wenn es um die sachlich korrekte Wiedergabe von Fakten geht:

Ungenaue Wiedergabe erzeugt den Eindruck von Verständnis…oder Blödheit

In dem Artikel wird hier ein interessanter Vergleich mit dem menschlichen Lernprozess gezogen: Wenn uns jemand einen Satz aus einem Lehrbuch – oder der Wikipedia – 1-zu-1 aus dem Gedächtnis vortragen kann, dann halten wir das eher nicht für ein Beispiel von Intelligenz. Höchstens von gutem Gedächtnis. Die Fähigkeit, etwas zu paraphrasieren, ist oft der Kern der Herausforderung bei schriftlichen Prüfungen im Bildungssystem und die 1-zu-1 Kopie ein zu kennzeichnendes Zitat. Oder ein Plagiat, wenn es nicht gekennzeichnet wird. Wer etwas korrekt paraphrasieren kann, der*dem billigen wir zu, einen Sachverhalt verstanden zu haben und anwenden zu können.

Das dem Paraphrasieren zu Grunde liegende Verständnis eines Sachverhalts ist aber auch ein Weg, um diesen trotz einer verlustbehafteten Kompression vollständig wiedergeben zu können. Ein einfaches Beispiel sind hier die Grundrechenarten: Hat man sie verstanden, so kann man jede beliebige Kombination von Zahlen und Rechenregeln korrekt verarbeiten, ohne dass man die (unendlich große) Menge aller möglichen Kombinationen erlernen bzw. abspeichern muss. Eine kurze, verstandene Rechenregel ersetzt hier also riesige Tabellen mit konkreten Rechenergebnissen.

Bei ChatGPT zeigt sich der Effekt der verlustbehafteten Kompression dann aber nicht als Quelle eines daraus entstandenen Verstehens, sondern als schlichter Unsinn:

Die Maschinerie hat hier also nicht den inneren Zusammenhang zwischen Zahlen und Rechenregeln gelernt, sondern gibt letztlich Vermutungen über das mögliche Ergebnis ab, auf der Grundlage von Rechenbeispielen, die im Internet irgendwo zu finden waren. Und gerät bei der mittleren Frage auf Abwege. Was mit dem Wissen, das diese Antworten aus beim Training verwendeten Texten synthetisiert wurden, direkt verständlich wird.

Die (Nach)Frage verändert die Antwort

Ein weiterer, bei der Nutzung von Sprachmodellen zunächst überraschender Effekt ist deren ‚Fähigkeit‘ sich zu korrigieren. Das sieht man an diesem einfachen Beispiel, bei dem ich ChatGPT nach meinem Geburtstag frage:

Hier sieht man zum einen, dass ChatGPT versucht Internetquellen mit Bezug zu der Fragestellung einzubeziehen, also kontextbezogene Informationen zu ergänzen, die beim ursprünglichen Training des Sprachmodells nicht verwendet wurden. Das ist schon eine Erweiterung der grundlegenden Arbeitsweise eines Sprachmodells.

Die erste Antwort ist gewohnt selbstsicher und gibt eine präzise Antwort, auch wenn sie falsch ist, weder Monat noch Tag sind passend. Auf den vorsichtigen Hinweis hin, dass das vielleicht nicht korrekt ist, kommt eine Richtigstellung, die aber auf dem Level eines einfachen Sprachautomatens wie der uralten ELIZA bleibt.

Warum scheint ChatGPT einen Fehler ‚einzugestehen‘? Weil bei der zweiten Antwort die vorherige Konversation berücksichtigt und zur Synthese der Antwort verwendet wird. Hier beeinflusst also der Verlauf der Konversation das Ergebnis.

Unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage

Starte ich eine komplett neue Konversation mit ChatGPT kommt auf die Frage wieder die ursprüngliche, selbstsichere Antwort…nur habe ich dieses Mal am 1. Oktober Geburtstag. Der Grund für die andere – falsche – Antwort ist, dass bei der Synthese der Antworten ein zufälliger Faktor in das Sprachmodell gegeben wird, so dass man selten eine Antwort zweimal erhält.

In Midjourney, der KI zur Generierung von Bildern, erhält man als Reaktion auf eine Eingabe (Prompt) immer gleich 4 Varianten:

Hier kann man sich dann die Variation auswählen, mit der man weiterarbeitet und auf deren Basis man neue Varianten erstellen lässt. Alles, ohne dass man das ursprüngliche Prompt anpassen muss. In ChatGPT gibt es eine Option zur erneuten Generierung einer Antwort, die einen analogen Effekt hat.

Die Konversation nutzen, um die Maschine aufzuschlauen

Der Effekt, dass bei der Synthese einer Antwort die vorherige Konversation berücksichtigt wird, kann verwendet werden um der Maschine – zumindest kurzzeitig – etwas beizubringen:

Dieses ‚Wissen‘ besteht aber nur in dieser speziellen Konversation und steht nicht in der nächsten Konversation zur Verfügung.

Trotzdem kann es für manche Aufgabenstellungen ausreichen um aus Sicht der Nutzer*innen ein an die eigene Situation angepasstes Chaterlebnis zu kreieren, selbst wenn das zu Grunde liegende Sprachmodell gar keine entsprechende Spezialisierung hat. Dazu muss das Chatsystem nur – unsichtbar für die Nutzer*innen – eine entsprechende Vorkonversation führen und das Sprachmodell dadurch in einen entsprechenden Zustand versetzen, auf dem die Nutzer*innen dann ihre eigenen Fragen stellen.

Fazit

Wenn man sich folgende Aspekte von LLMs vergegenwärtigt, ist eine Einschätzung des Verhaltens und der Fähigkeiten vermutlich einfacher möglich, als über den Versuch die tief-technischen Details dieser Systeme zu verstehen:

  • Ein Sprachmodell speichert das Wissen, welches für sein Training verwendet wurde, nicht 1-zu-1 ab. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu Suchmaschinen
  • Zumindest heute können Sprachmodelle daraus keine allgemeinen Regeln wie zum Beispiel die Grundrechenarten destillieren und zuverlässig anwenden
  • Antworten auf Fragen werden aus diesem verdichteten Wissen synthetisiert, die Antworten sind damit grundsätzlich nicht faktentreu
  • Die Halluzination, also die Generierung von unwahren Aussagen, ist ein konzeptioneller Bestandteil eines Sprachmodells und kein Fehler, der sich komplett ausmerzen ließe
  • Die Synthese der Antworten enthält einen zufälligen Faktor, und ist damit meist nicht reproduzierbar
  • Die Antworten werden durch vorherige Konversationen beeinflusst, auf diese Weise lässt sich kurzzeitig zusätzliches Wissen in begrenztem Umfang einspeisen

Einschränkend muss man dazu sagen, dass die Entwicklung der Sprachmodelle stürmisch ist und die verschiedenen Anbieter diese Eigenschaften natürlich genau kennen. Dementsprechend begegnet man heute oft nicht mehr reinen Sprachmodellen, sondern um weitere Funktionen ergänzte Chatbots, die einige dieser Eigenschaften abmildern.

ihbrune

1991-1996: Studium der Naturwissenschaftlichen Informatik an der Universität Bielefeld. Abschluss mit der Diplomarbeit zum Thema 'Analyse von ein- und mehrdimensionalen Zeitreihen mit der Karhunen-Loève- und Wavelet Transformation' || 1996-1997: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Prof. A. Knoll in der Technischen Fakultät der Universität Bielefeld im Projekt 'LANeCo: Local Area Net Configuration' || 1998- 2018: Tätigkeit im BIS - Bielefelder Informationssystem an der Universität Bielefeld || Seit Oktober 2018: Leitung der Abteilung Informationssysteme und Prozessunterstützung im BITS